ingrid hofmann, über den rand hinein
stuttgartgedichte
ISBN 978-3-934136-66-3
Rezension
des Herausgebers
Kann man in Stuttgart, dieser Idylle von automobilem Wohlstand und schwäbischer
Hausmacherkost, gute Lyrik schreiben? Gar noch „stuttgartgedichte“, welche die
Stadt zum Gegenstand und Thema machen? Schmunzel-Mund-Art vielleicht? Oder
kleine Politreime zur Kommunalpolitik (anstelle eines Leserbriefs)? Könnte man
sich ein Stuttgart-Gedicht im aggressiv-expressionistischen Stil vorstellen,
bei einer solchen lieblichen Lage zwischen Wein und Reben und so vielen schönen
Autos? Ein guter Lyriker erspürt seine Zeit, gewinnt ihr neue Seiten ab und
„verdichtet“ sie zu einer neuen „Wirklichkeit“. Ingrid Hofmann scheint dies zu
gelingen.
Sie hat sich auf Stuttgart eingelassen, freundlich und gekonnt
ungekünstelt. Die „reingeschmeckte“ gebürtige Chemnitzerin hat im
Auftaktgedicht wirklich „rein geschmeckt“ ins Stuttgarterische - zunächst in
die Küche – und Geschmack daran gefunden, doch: ihr fehlt „Pfeffer“! Dieser
würzt deshalb ihre „stuttgartgedichte“
in Form feiner, oft witziger Pointen, welche kurz die Nerven zum Gehirn
elektrisieren, um dort anregend nachzuglühen.
„über den rand hinein“ heißt der dritte Lyrik-Zyklus der Autorin,
welcher im Marbacher ALKYON Buchverlag Irmgard Keil gerade erschienen ist. In
ihrem Erstlingswerk war sie „japan auf den versen“ und brachte von einer
fernöstlichen Reise lyrische Notate mit, die die Sinne öffnen für eine alte
Kultur im Umbruch der modernen Zeit. Es folgte „warten berg“, eine Hommage an
den oberbayrischen Marktflecken – Einflugschneise Erdinger Moor –, in dem
klinisch getestet / „tage & nächte umarmt / der blutdruck singt“.
Wie es einer (immerhin seit 50 Jahren) Reingeschmeckten gebührt, nähert
sich Ingrid Hofmann der hiesigen Landeshauptstadt schrittweise von außen an,
erst gemächlich vom Neckar her („wasser lauf“), dann über die südlichen Höhen
(„open air“). Sie gewinnt dabei dem Gewohnten mit feinem Gefühl etwas
Besonderes ab. So trifft sie beim „entrée de wilhelma théâtre“ das „corps de
ballett“ der Flamingo, und sie registriert den „beinlichen“ Gegenverkehr im
Cannstatter Leuze-Bad, während „kraniche“ über die „krautlose filderebene“ hereingeflogen
kommen und den globalisierten Messebetrieb mit „pilger strömen“ versorgen.
Stuttgarts Wahrzeichen „auf dem hohen bopser“ wird ein bisschen aufgetakelt:
Das „großstadt gewächs“ ist „noch nicht in die jahre gekommen“, aber immerhin
„zweimal geliftet“. Die Ironie bleibt zart und lyrisch, gerät nicht zur
bissigen Satire. Dafür sorgt auch das jahreszeitliche Arrangement der Gedichte
in den sechs einzelnen Abteilungen des Lyrikbändchens.
Der dritte Teil „seiten sprünge“ führt ambivalent personifizierend
„dahlienträume“ auf den „laufsteg“ des Killesbergs, den „blumenstrich“, oder
treibt den „parade hengst“ aus Zuffenhausen mit „feuer unter den hufen“ „hinein
in den stutengarten“. Und in „naht stellen“ – dem vierten Teil mit ICE und
Hauptbahnhof – darf man „standhaft im zug sitzen“, während über die Rolltreppe
„aufsteiger“ zum Zug kommen: „die anderen kommen runter“. Für Hintersinniges
eignen sich diese kurzen, diese „dichten“ Gedichte Ingrid Hofmanns, nur wenige
sind über ein Dutzend Zeilen lang: Ihr frühes Ende und ihr Nach-Klang
stimulieren das Nach-Denken, so dass der Leser oder Hörer selbst das Neue und
Besondere in ihnen findet.
In „art & weise“ thematisiert die passionierte Kunst- und
Musikliebhaberin ihre Kulturerlebnisse in der Landeshauptstadt. Das
Politisch-Gesellschaftliche wird dabei sanft überspielt: Im Staatstheater gibt
es „Don Giovanni“: „ver.di spielt darin keine rolle“, weil „ver.di streikt“.
Im „dichter kessel“ findet der Zyklus sein poetisch-merkantiles Zentrum,
denn der „schiller steht / auf dem platz / zwischen spargel / eiern blumen /
vergissmeinnicht“. Die Gedichte vermitteln so ein Stuttgarter Lebensgefühl,
welches dem Wohlstand gewogen ist: „von oben herab glänzt / über allem merkurs
gold“.
Eberhard Keil, Sept. 2008
zurück zum Anfang
zurück zur Titelliste
zurück zur Startseite