Sehr persönliches Dokument
"Entführung 1934" - Ein Sohn reißt den Vorhang der Geschichte auf
Von BABETTE ZAUMSEIL
Wilischthal. Ein Geschäftsmann wird entführt und aus
dem Erzgebirge nach Berlin verschleppt. Die Kidnapper fordern Geld und
misshandeln derweil ihr Opfer. Am Ende steht die Befreiung des Entführten
- alles wird wieder gut. Oder auch nicht. Denn der Mann auf dem Nachhauseweg,
den zunächst Unbekannte im idyllischen Wilischthal in ein fremdes
Auto zerren, ist Jude. Und:
Wir schreiben das Jahr 1934. Die Entführer des Otto Schlesinger
tragen SA-Hemden und handeln im Glauben, eine starke Organisation hinter
sich zu wissen - darin werden sie letztlich auch nicht enttäuscht.
Nachzulesen ist dieser Fall sowohl in englischer als auch deutscher
Sprache in dem Buch "Entführung 1934 - Kidnap the Jew" von Kenneth
Frank Sheridan. Der Autor wurde als Otto Schlesingers Sohn Kurt unmittelbar
vor dem Ersten Weltkrieg geboren. Sein Vater, das Entführungsopfer,
war später einer der Direktoren der Marschel Frank Sachs AG (Mafrasa),
eines der größten europäischen Trikotageunternehmen.
Die Entführer des Otto Schlesinger wurden zwar zu jahrelangen
Haftstrafen verurteilt - nicht zuletzt dank der kriminalistischen Vorarbeit
des Gründers der Mordinspektion, Ernst Gennat -, doch schon nach drei
Monaten freigelassen. Und der Mann, der die Entführung überlebte,
zerbrach dennoch an ihr: Im Exil in Rio de Janeiro starb er, gerade einmal
56 Jahre alt, in einer Heilanstalt, wie sein Sohn schreibt
Kenneth Sheridan reißt für den Leser den Vorhang der Geschichte
auf und nimmt ihn mit in den Strudel der Geschehnisse. Schritt für
Schritt beschreibt Qtto Schlesingers Sohn die Entführung, immer auf
engster Tuchfühlung zum Geschehen. Diese Nähe zu dem, was passiert,
schimmert durch die berichtenden Zeilen, macht sie zu einem sehr persönlichen
Zeitdokument.
Für Sheridan wurde Großbritannien zur neuen Heimat. Als
er bereits Enkel hatte, schrieb er über sein Leben in dem Buch "A
life in the 20th century". 1977 entstand die Geschichte über die Entführung
seines Vaters und wurde in die Autobiographie aufgenommen, berichtet Eberhard
Keil vom Buchverlag. Keil wiederum war auf der Suche nach Zeitzeugen für
die Geschichte des Böhrigener "Sachswerks" und der Mafrasa und stieß
bei seinen Recherchen auf Sheridan. Das Resultat liegt nun in dem Bändchen
auf englisch und deutsch vor.
"Marbacher Zeitung" 24.05.2002
Eine Kriminalgeschichte aus Nazideutschland
Marbacher Verleger Eberhard Keil veröffentlicht spannende Zeitgeschichte: "Entführung 1934 - Kidnap the Jew"
MARBACH. "Am 1. Februar 1934, einem Donnerstagabend, fuhr Otto Schlesinger
wie immer seit 15 Jahren von seinem Geschäftsbüro nach Hause
aufs Land. Er war von beleibter Statur, kurzsichtig und kahlköpfig.
Ein wohlhabender deutscher Jude, der sein Geld im Textilunternehmen der
Familie verdiente und in seiner Freizeit die angenehmen Seiten des Lebens
mit Hingabe genießen konnte..." Doch na jenem Winterabend sollte
Otto Schlesinger nicht bei seinen Lieben ankommen. Auf der einsamen Landstraße
im Erzgebirge wurde der Fabrikant plötzlich von vier jungen Männern
in einem großen neuen Horch gestoppt. Sie verschleppten ihn nach
Berlin in das Quartier eines SA-Sturmtrupps, und dem Entführungsopfer
wurde bald klar, dass er "Braunhemden" in die Hände gefallen war,
die knapp bei Kasse waren.
Spannend wie ein Krimi aus der Frühzeit des Nazi-Regimes liest
sich das schmale Büchlein mit dem Titel "Entführung 1934 - Kidnap
the Jew". Und könnte doch nicht authentischer sein, denn der Autor
schildert als Zeitzeuge die Entführung seines Vaters. Der Marbacher
Eberhard Keil geriet per Zufall an diese Momentaufnahme aus der Entstehungszeit
des totalitären Regimes und erklärt: "Ich war gleich elektrisiert."
Nachdem die Rechte am Abdruck gesichert waren, veröffentlichte er
sie im BIK-Buchverlag Irmgard Keil als fünften Band in der Historischen
Reihe.